Die eigentlichen Ursachen von Beschwerden!

Herr Schymanski, Sie sind Allgemeinmediziner mit einer eigenen Praxis in Ulm. Was war der Auslöser, neben Ihrer ärztlichen Tätigkeit ein Buch zu psychosomatischen Beschwerden zu schreiben?

(lacht)... Den Anstoß gab der Wunsch, nicht jeden Tag zehnmal das Gleiche erzählen zu müssen. Die weitaus meisten Patienten kommen mit „funktionellen“, d. h. psychosomatisch bedingten Beschwerden zum Allgemeinarzt. Ich dachte, wenn ich meine Erklärungen hierzu aufschreibe, spare ich Zeit.

Ist Ihr Wunsch in Erfüllung gegangen?

Ja! Aber anders, als ich gedacht hatte. Durch das Buch kommen jetzt deutlich mehr Menschen speziell mit der Frage in meine Praxis, ob ihre bisher erfolglos therapierten Beschwerden vielleicht psychosomatisch bedingt sein könnten. Ich erkläre die Zusammenhänge also noch häufiger als früher. Dafür fangen die Leute, die das Buch gelesen haben, nicht mehr bei Null an. Sie kennen bereits die wesentlichen Zusammenhänge. Das macht die Arbeit effektiver und interessanter.

Können Sie den Menschen, die zu Ihnen kommen, helfen?

Vielen fällt es schwer zu akzeptieren, dass scheinbar rein körperliche Beschwerden wie Rücken- oder Kopfschmerz seelische Ursachen haben. Pillen zu schlucken gegen Verdauungsbeschwerden, Ängste oder Depressionen ist einfacher, als die Botschaft zu entschlüsseln, die sich hinter jedem Symptom verbirgt. Psycho-somato-soziale Signale sind kein unvermeidliches Schicksal. Sie sind stets der Hinweis, dass sich weitere Facetten der Persönlichkeit entfalten möchten. Wer bereit ist, seine Symptome nicht länger als „Krankheit“ zu interpretieren, dem können sie als unbestechliche Ratgeber zu einem entspannten und erfolgreichen Leben verhelfen. Das richtige Verständnis verwandelt vermeintliche Krankheiten in echte Chancen. Viele Menschen besitzen den Mut zu diesem Perspektivenwechsel. Manche schlucken lieber Tabletten.

Welche Konsequenzen haben Sie gezogen, als Sie merkten, dass so viele Ihrer Patienten an psychosomatischen Beschwerden leiden?

Zu Beginn meiner medizinischen Ausbildung war ich regelrecht blind für psychosomatische Zusammenhänge. Im Studium und während der Facharztausbildung werden entsprechende Symptome ja auch kaum erwähnt. Erst mit der Niederlassung in eigener Praxis wurde mir nach und nach bewusst, dass Ärzte Patienten mit einer rein auf Symptomunterdrückung ausgerichteten Therapie nicht wirklich helfen, sondern langfristig sogar schaden. Noch länger habe ich gebraucht um zu verstehen, dass sich hinter „funktionellen“ Störungen für jeden Einzelnen ein riesiges Potenzial versteckt. Richtig verstanden, können diese Störungen jedem helfen, in das Leben zu finden, das ihn glücklich macht und langfristig gesund erhält.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Hürden für eine adäquate Behandlung von Patienten mit psychosomatischen Beschwerden?

Das größte Hindernis ist die begrenzte Zeit, die das Gesundheitssystem dem Arzt zur Behandlung seiner Patienten zubilligt. Die übliche Fünf-Minuten-Medizin reicht zu kaum mehr, als auf jede geäußerte Beschwerde ein Medikament zu klatschen. Das hilft für den Moment, heilt aber meist nicht dauerhaft. Deswegen gehen die Leute ja ständig zum Arzt: Die wirklichen Ursachen Ihrer Beschwerden werden im Sprechzimmer weder gesucht noch gefunden. Auch ärztlicherseits besteht bislang kaum ein Bewusstsein, dass es sich bei den meisten „Krankheiten“ in Wahrheit um Chancen handelt, die richtig therapiert auch die Entstehung von organischen Erkrankungen verhindern würden.

Ein weiteres Hindernis liegt in der vehementen Verleugnung seelischer Ursachen. Manche Patienten fürchten immer noch, in die „Psychoecke“ geschoben zu werden. Viele schlucken lieber Medikamente, als dass sie sich ehrlich die Frage beantworten, ob sie so leben, wie es ihrem tatsächlichen Wesen entspricht. Wenn sich ihre Seele über körperliche Signale zu Wort meldet, bringen sie sie lieber mit Pharmaka zum Schweigen, bevor sie ihr bisheriges Leben in Frage stellen und sich mit den immer vorhandenen Optimierungsmöglichkeiten beschäftigen.

Was sagen Sie diesen Patienten?

Selbst die Bundesliga beschäftigt „Coaches“. Die machen im Prinzip nichts anderes, als den Spitzenathleten den Zugang zu ihrem vollen Leistungsvermögen zu verschaffen. Darum geht es: In die eigene Kraft zu kommen, Sein und Dasein in harmonische Übereinstimmung zu bringen. Und nicht Lebenszeit mit Krankheiten und Arztbesuchen zu vergeuden. Die eigentlichen Ursachen von Beschwerden anzusehen, kann Berge versetzen.

Sie verwenden in Ihrem Buch „Die Sprache der Seele“ den Begriff „psycho-somato-sozial“, in Anlehnung, aber auch in Ergänzung zum bekannten Begriff „psycho-somatisch“. Inwiefern unterscheidet sich Ihr Ansatz?

Der Begriff „Psychosomatik“ greift zu kurz. Psychische Spannungen können sich nicht nur als seelisches und körperliches Symptom äußern, sondern auch im sozialen Bereich in Erscheinung treten – beispielsweise als permanente Beziehungsschwierigkeiten, als Karrierehemmnis oder auch als Mobbing. Wie es die WHO-Definition von Gesundheit vorgibt, gehören alle drei Bereiche untrennbar zusammen: Gesundheit ist körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden. Die heutige Medizin betrachtet alle drei Bereiche weitgehend noch als getrennte Disziplinen. Für den Körper sind die Ärzte zuständig, für die Seele die Psychologen und fürs Soziale die Sozialarbeiter. Diese Aufteilung macht es für alle Beteiligten sehr schwierig zu erkennen, dass seelische Spannungen zu körperlichen und sozialen Problemen führen können.

Vielleicht werden die Zusammenhänge an einem Beispiel deutlich: Stellen wir uns vor, ein Mensch wird gemobbt. Er entwickelt heftige Rückenschmerzen und wird im Verlauf depressiv. Nach herkömmlicher Vorstellung hat er drei Probleme. Eines, das der Sozialarbeiter regeln soll, eines der Orthopäde und eines der Psychiater. Vielleicht vermutet einer der Spezialisten schon einen Zusammenhang zwischen den Symptomen in den unterschiedlichen Fachbereichen: Das Mobbing verursacht die schmerzhaften Rückenverspannungen und diese wiederum die Depression. Ganzheitlich, psycho-somato-sozial betrachtet würde man erkennen, dass der Betroffene seelische Spannungen in sich trägt, die einerseits dafür verantwortlich sind, dass er Mobbing zum Opfer fällt. Ein gesunder Mensch wird nicht gemobbt. Und wenn, wechselt er eher die Stelle, als dass er körperlich und seelisch leidet. Die seelischen Spannungen unseres Beispielpatienten sind über das Mobbing hinaus aber auch ein jeweils eigenständiger Grund für die Rückenschmerzen und die Depression. Die Heilung seiner chronischen inneren Anspannung löst alle drei Probleme effektiv – und zwar dauerhaft, ohne Medikamente. Die Intervention des Sozialarbeiters beim Betriebsrat hingegen, die Injektionen des Orthopäden und die Antidepressiva, die der Psychiater verschreibt, verwandeln die Chance auf wirkliche Gesundheit in ein chronisches Leiden, das oft lebenslang therapiert werden muss und eben nicht zu Wohlbefinden führt sondern zu immer neuen Beschwerden und letztlich auch zu organischen Krankheiten.

Im Kapitel „Die Zuckerkrankheiten der Seele“ erklären Sie mithilfe neurobiologischer Abläufe im Gehirn, warum „immer mehr“ nicht „immer glücklicher“, sondern krank macht. Sind wir alle überstimuliert?

Daran besteht wohl kaum ein Zweifel. Unser Belohnungssystem ist auf eher spartanische Zeiten abgestimmt. Weil es in der heutigen Zeit pausenlos stimuliert werden kann, reagiert es kaum mehr auf Reize, die uns vor wenigen Jahrzehnten noch extrem glücklich gemacht hätten. Wir haben uns an den Überfluss gewöhnt. Deswegen muss heute alles immer noch größer und noch toller werden. Im Kino reicht nicht mehr der Film allein, es müssen Chips und Dips dazu, Süßigkeiten und nach Möglichkeit noch alkoholische Getränke. Es ist kein Wunder, dass nichts mehr große Freude bereitet, zumal uns durch Werbung ständig vorgegaukelt wird, dass wir es noch viel besser haben könnten. Der Überfluss macht uns paradoxerweise immer bedürftiger. Deswegen füllen wir unser vermeintliches Defizit mit den falschen Dingen. Viele von uns essen zu viel, andere trinken oder rauchen, und viel zu viele Menschen schlucken Antidepressiva. Nichts von alldem macht wirklich gesund. Wer mit sich selbst im Reinen ist, braucht keine falschen Seelentröster. Das ist die Chance, die sich hinter psychischen, sozialen und körperlichen Symptomen versteckt. Wir müssen nur lernen, die Sprache der Seele zu verstehen.

Buchinfos zu: "Die Sprache der Seele" von Dr. Ingo Schymanski ...